Katastrophe mit langem Anlauf
Der „Westen“ hat versagt, die Amerikaner haben sich zu schnell aus Afghanistan zurückgezogen, die Schande des „Westens“. Solche und ähnliche Schlagzeilen bestimmen im Moment die Medienlandschaft zu dem Thema. Politiker wie US-Präsident Joe Biden werden verantwortlich für das „Desaster“ gemacht. Donald Trump tönt in gewohnter Manier, dass er „es alles ganz anders und viel besser“ gemacht hätte. Wie genau er das getan hätte, bleibt er natürlich schuldig zu erklären. Dabei hat er gegen Ende seiner Präsidentschaft den fragwürdigen Deal zum Abzug der amerikanischen Truppen selbst mit den Taliban vereinbart – zudem hätte die US-Armee das Land schon im Mai verlassen – also noch früher als jetzt.
Dass es eine katastrophale letzte Phase des Engagements
der Industrienationen in Afghanistan geworden ist, steht angesichts der
jüngsten Bilder vom Flughafen in Kabul außer Zweifel. Der rasche Sieg der
Taliban war offenbar von allen verantwortlichen Regierungen und deren Geheimdienste
so nicht abgeschätzt worden. Doch die Alternative zu einem Abzug aus dem Land
hätte nur die Fortführung des bisherigen Einsatzes mit all seinen Schwächen und
Fehlern bedeutet, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Ansonsten wäre die
Rückkehr der Islamisten offenbar nicht zu verhindern gewesen – egal in welchem
Zeitraum sich die Alliierten zurückgezogen hätten.
Ich bin nun wahrlich kein Experte für dieses Land, aber
wenn man sich ein wenig für die Historie interessiert, recherchiert, Interviews
mit Kennern Afghanistans liest und die Nachrichten aufmerksam verfolgt, dann
kann man sich schon ein gewisses Bild davon machen und auch die Grundsätzlichkeit
der üblichen politischen Motivationen und Argumente, die wir dazu dargereicht
bekommen, hinterfragen. Afghanistan ist eine Katastrophe mit sehr langem
Anlauf.
Die ehemalige britische Kolonie, die zum indochinesischen
Teil des damaligen Weltreiches gehörte, wurde 1919 von Großbritannien unabhängig.
Schon 1923 wurde das Wahlrecht für Frauen (zunächst nur für diejenigen, die
lesen und schreiben konnten) eingeführt. In den späten 1970er Jahren war Afghanistan
unter einer kommunistischen Regierung zumindest in den Städten ein modernes,
sich entwickelndes Land mit modisch gekleideten Menschen und international
geprägter Kunst und Kultur.
Der Kommunismus in der Region war aber den Amerikanern –
wie überall auf der Welt – ein Dorn im Auge und der geopolitische Machtkampf
mit der damaligen Sowjetunion setzte sich auch hier fort, zumal man sich direkt
im „Vorgarten“ der UDSSR befand. Die im Gegensatz zu den Städtern eher traditionell
eingestellte bis fundamentalistische Landbevölkerung wurde von da an umgarnt
und schließlich (finanziert von den USA und Saudi- Arabien) mit Waffen für den „Widerstand“
gegen das Regime in Kabul versorgt. In den westlichen Medien wurden die „heldenhaften
Mudschaheddin“ dann im Krieg für ihre Erfolge um die „Freiheit“ gefeiert.
Offenbar hat dabei auch Deutschland profitiert, denn ich
kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie in den 1980ern in den Nachrichten
die „Freiheitskämpfer“ in den schwer zugänglichen Bergregionen stolz mit
Präzisionswaffen von Heckler & Koch gezeigt wurden und ich mich schon
damals (zu Beginn meines politischen Interesses) gefragt habe, wie die wohl da drangekommen
sind?
Das bedeutet, wieder einmal hat man seitens der USA durch
gezielte Destabilisierungspolitik ein Problem (nämlich schwer bewaffnete
Fundamentalisten) geschaffen, dass man dann später wieder loswerden wollte,
indem die CIA mit Geldkoffern zu den Stammesältesten einzelner Regionen in
Afghanistan flogen und diese nunmehr mit Mitteln für den Waffenkauf ausstattete,
mit denen dann interne Kämpfe ausgefochten wurden. Teile und Herrsche war wohl der
Gedanke, der dahintersteckte. U.a. daraus muss folglich der Hass entstanden
sein, den die vormals geförderten und dann fallengelassenen Mudschaheddin auf
die westliche Welt entwickelt haben. Man hat den „internationalen Terrorismus“,
den man schließlich unter Führung der USA bekämpfen musste, im Grunde selbst durch
sein Handeln dort wie in vielen anderen Regionen der Welt gezüchtet und
herbeigeführt.
Insgesamt stellt sich natürlich wieder die Frage, was hat
ansonsten zur Einmischung des „Westens“ in die Angelegenheiten dieses weit entfernten
Landes geführt? Die Verletzung von Menschenrechten und die Niederschlagung von
Terrorunterstützern allein können es nicht gewesen sein, denn ansonsten müsste
die sogenannte internationale Gemeinschaft in vielen Ländern intervenieren und
z.B. auch den Regierungen von Saudi-Arabien oder Katar das schmutzige Handwerk legen.
Die bekannten Worte des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, dass „Deutschlands
Freiheit auch am Hindukusch verteidigt werde“, meinte wohl vor allem die
Freiheit des Rohstoff- und Warenverkehrs, die ganz offensichtlich immer eine wichtige
Rolle spielt. Es sind seltsamerweise nämlich genau die Länder mit reichlichen
Vorkommen solcher Rohstoffe, in denen das Engagement für „Freiheit und
Demokratie“ der Industrienationen stets am stärksten verankert ist.
Afghanistan besitzt laut Einschätzung der USA
Bodenschätze in Form von Edelmetallen, seltenen Erden, Erdgas und Öl in Höhe
von bis zu 3 Billionen US-Dollar – und die wollen natürlich gehoben werden. China
hat ganz offensichtlich daraus gelernt und sich deshalb sogleich zu Wort
gemeldet, dass man durchaus bereit sei, „ein vertrauensvolles Verhältnis“ mit
der neuen Taliban-Regierung aufzunehmen, um den eigenen Expansionskurs weiter
fortzuführen.
Mit der angeblichen Demokratisierung und der Sicherung
der Frauenrechte des Landes ist es übrigens nach der Vertreibung der Taliban 2002
auch nicht so weit her gewesen, wenn man mal etwas genauer hinschaut. So gibt
es z.B. seit 2009 – also unter der von den Alliierten unterstützten Regierung –
ein Gesetz, dass Frauen „ehelichen Pflichten“ auferlegt. Sie müssen den
sexuellen Bedürfnissen ihrer Männer „jederzeit nachkommen“, wie es dort heißt.
Zudem ist Mädchen seit diesem (2021) Jahr (noch vor der Wiedereroberung durch
die Taliban) das Singen in der Öffentlichkeit in Anwesenheit von Männern
verboten.
Von einem „modernen, westlichen“ Lebensstil ist man in
Afghanistan also schon seit Langem weit entfernt gewesen und das wurde offensichtlich
so von den „Schutzmächten“ getragen, wie es den Anschein hat. Dabei ist es
ohnehin fraglich, ob die Menschen in Summe das überhaupt so wollten. Aber als
Ziel wurde es ja neben den weiteren „humanitären“ Gründen für den Einsatz stets
deklariert. Die verlogenen Betroffenheitsphrasen der verantwortlichen (internationalen)
Politik und auch die wahlkampfmotivierten gegenseitigen Schuldzuweisungen
innerhalb der Bundesregierung, die nun aktuell in den Medien zu hören sind,
zeigen aus meiner Sicht nicht nur die kurzfristige Fehlinterpretation der
jüngsten Entwicklung auf, sondern eher die weitreichenden Folgen der systematischen
Fehler von geopolitischen und neokolonialistischen Handlungsweisen unserer
Regierungen. Tragisch ist wie immer der hohe Verlust von Menschenleben und das
riesige Elend, das Menschen erdulden müssen, weil es diese in Wahrheit nur von
wirtschaftlichen Interessen getragene Handlungsweisen, gestützt durch
militärische Macht, gibt.
Die damit mit Sicherheit verstärkt einhergehende Flucht
von Menschen aus Afghanistan wird dagegen sogleich mit politischen Reflexen bedient,
die solche nationalistischen Töne wie „keine Wiederholung von 2015“ beinhalten
und deutlich macht, dass man neben der fehlenden Einsicht der vielen Fehler der
Vergangenheit auch nicht bereit ist, Verantwortung für die Folgen zu tragen – und
das sowohl auf nationaler Ebene, als sicher auch in Gesamteuropa nicht. Die
eher hilflose Aufforderung von UN-Generalsekretär Antonio Guterres, dass jetzt „alle
Länder Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen sollten“, macht das bereits jetzt
deutlich. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet ist sich sogar nicht zu schade
dafür, sogleich zu fordern, man müsse „die Fluchtursachen im Land beseitigen“.
Wie er das angesichts der derzeitigen Lage in Afghanistan umsetzen möchte, wird
wohl sein ewiges Geheimnis bleiben.
Abschließend bleibt zu bewerten, dass solche endzeitlichen
Katastrophen – und nichts anderes ist das für die betroffenen Menschen – die langfristigen
Folgen einer völlig fehlgeleiteten Politik sind, die nur aus Wirtschafts- und
Machtinteressen besteht. Verantwortlich dafür sind aktuell nicht (nur) Joe
Biden, Angela Merkel oder Heiko Maas, sondern ein kapitalistisches, durch und
durch krankes, menschenfeindliches System, das wir „im Westen“ normal nennen
und auf das wir unser Leben aufbauen. Das ist das Fazit, das ich ziehe, wenn
ich mir die genannten Artikel, die Historie, Interviews mit Experten usw. zu
diesem Thema betrachte.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen